Kintsugi für Künstler

Was ist Kintsugi?

Es handelt sich dabei um eine Kulturtechnik aus Japan, bei der zerbrochene Keramiken mit Gold repariert werden. Die Bruchstellen werden nicht zu verbergen versucht, sondern ganz im Gegenteil wertschätzend in Szene gesetzt. Die so entstandenen Kunstwerke sind wertvoller als die ursprünglichen heilen Gegenstände, erstrahlen in neuer Schönheit und erzählen ihre ganz eigene Geschichte. 

Was wir von Kintsugi für unsere Kunst und unser Leben lernen können

Manchmal ist das Leben ganz schön anstrengend und bürdet uns Erfahrungen auf, die nicht so leicht zu tragen sind.

Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber meinem Eindruck nach sind die schwersten Erfahrungen oft auch die wertvollsten, die uns weiter bringen, wachsen lassen, stärker machen.

Nicht immer läuft es geradlinig und bergauf.

Solche Lebenserfahrungen haben mir eine Art Weisheit geschenkt, die rückblickend für mich wertvoll ist und auf die ich nicht verzichten möchte.

Ja, manches davon hat mich verletzt, mir einen Knacks gegeben oder auch etwas zerbrochen. Wie nun damit umgehen? So tun, als wäre nix gewesen? Die Bruchstellen und Narben verstecken?

Wäre es nicht viel hilfreicher, sie als wertvollen Teil von uns anzuerkennen, der uns zu dem gemacht hat, was wir sind?

Diese innere Stärke trägt uns durch schwere Zeiten und hilft uns dabei, nach Niederlagen oder Verletzungen weiterzumachen. Verletzlichkeit ist keine Schwäche und Scheitern kein Versagen. 

Vor diesem Hintergrund finde ich die Idee hinter dem japanischen Kintsugi für den Umgang mit solchen Bruchstellen so schön und sehr hilfreich bei zerbrochenen Lebensentwürfen.

Die Überzeugung, dass wir schwierige Lebensphasen und Krisen in etwas Wertvolles transformieren können, gibt uns Hoffnung und Kraft, macht uns resilient.

Ein Bruch bedeutet nicht das Ende, sondern es geht weiter. Wenn etwas zerbricht, können wir die Scherben aufsammeln und daraus etwas Neues zusammensetzen.

Der Gegenstand ist nach Zerbrechen und Reparatur nicht mehr einer von vielen, sondern erzählt seine eigene, einzigartige Geschichte von Heilung, Versöhnung, Neubeginn.

Mit unserer Persönlichkeit ist es ähnlich. Durch unsere Lebenserfahrungen inklusive der Brüche und Verletzungen werden wir zu dem, wer wir sind.

Kintsugi in der Mutmalerei

Bestimmt ist es dir auch schon passiert, dass du einen scheinbaren Makel in deinem Bild entdeckt hast. Du ärgerst dich, zweifelst vielleicht sogar an dir und deinen Fähigkeiten. Das Bild war so schön, aber dann hast du mit einem Strich alles ruiniert und würdest es am liebsten in die Tonne kloppen.

Oder dir rutscht plötzlich der Pinsel aus der Hand und verteilt Farbspritzer auf dem Papier, wo sie definitiv nicht hingehören.

Du hast dich angestrengt und dir große Mühe gegeben, trotzdem ist dir ein Bild nicht so gelungen, wie du es dir vorher im wahrsten Wortsinn perfekt ausgemalt hast? Da können schon mal negative Gedanken und Selbstzweifel aufkommen.

Genau in solchen Momenten kann der Kintsugi-Gedanke nützlich sein. Ärgere dich nicht mehr als unbedingt nötig, (ver)zweifle nicht, sondern setze diese Stellen in Szene und erzähle so mit dem Bild deine einzigartige Geschichte mit allem, was dazu gehört.

Wie lässt sich Kintsugi beim Malen leben?

Manches, was wir da auf dem Papier nicht haben wollen, lässt sich so gut wie ungeschehen machen. Ein zarter Bleistiftstrich lässt sich zum Beispiel ausradieren. Wenn das aber sowieso nicht funktioniert, wie es bei vielen Ereignissen aller Art der Fall ist, können wir uns Vertuschungsversuche sparen, sie würden ohnehin nur zu Verschlimmbesserung führen.

Versuche stattdessen, die Bruchstelle alias Schandfleck in dein Gesamtkunstwerk zu integrieren und zum Teil der Bildgeschichte zu machen. Dasselbe gilt für Bildbereiche, die du warum auch immer nicht magst, weil sie dich vielleicht an etwas Blödes erinnern und negative Gedanken und Gefühle auslösen.

Du könntest die Stelle farblich besonders hervorheben oder etwas anderes daraus entwickeln, z. B. wird aus dem falschen Strich eine Blume.

Bei besonders bedeutsamen und emotionalen Themen kann es gut tun, die Stelle zu übermalen, dabei das Alte bewusst loszulassen und durch etwas anderes zu ersetzen. Eine Stelle im Bild zu übermalen ist wie Freiraum für etwas Neues zu schaffen, ohne dabei gleich das große Ganze infrage zu stellen. Nur weil es in einem Bereich nicht so gut gelaufen ist wie erhofft, kann das Gesamtbild wie auch das Leben trotzdem gelungen und wertvoll sein. 

Wirf also ein Bild nicht gleich in die Tonne oder gib vor lauter Frust die Malerei gleich ganz auf. Wer weiß, wofür es gut ist? Wenn wir mitten in einer Krise stecken oder gerade in diesem Moment voller Ärger und Enttäuschung über ein misslungenes Bild (oder andere Dinge), vermögen solche Überlegungen nicht immer sofort zu trösten. Stell es deshalb für eine Weile zur Seite und nimm dir ein bisschen Zeit, um Abstand zu gewinnen und später mit frischen Augen und aus einer anderen Perspektive erneut drauf zu schauen.

Was magst du daran, was steckt Gutes darin und ist es dir wert, in irgendeiner Weise bewahrt und neu gestaltet zu werden. Was könntest du damit ausprobieren, wie könnte es damit weitergehen? Wie könntest du den vermeintlich falschen Strich in dein Bild integrieren und ihm eine neue Bedeutung geben?

Vielleicht möchtest du bestimmte Bildteile erhalten und den Rest übermalen oder du kannst dich nur dazu durchringen, eine klitzekleine Stelle am Bild zu mögen, dann schneide diese aus und integriere sie in ein neues Bild, als Collage, wie auch immer. Bei mir landen solche kleinen, besonderen Schnipsel auch gerne mal in meinem Journal oder bilden die Grundlage für einen Text bei meinen intuitiven Schreibritualen.

Selbst ein komplett übermaltes Bild kann als Unter- oder Hintergrund weiter seine Geschichte erzählen, wenn die alten Strukturen und Farbschichten noch erkennbar sind. Bei mir stehen ein paar übermalte Exemplare, da ist mir sehr bewusst, was darunter liegt.

Was du erlebst, ist immer ein Teil von dir und kann nicht völlig ausgelöscht werden, so, als wäre es nie dagewesen. Egal, ob beim Malen oder im wahren Leben, es zählt das Gesamtkunstwerk, was du daraus machst, wie du es gestaltest, mit allem, was dir auf dem Weg passiert.

Einige unserer Pläne und Träume bröckeln oder zerbrechen im Laufe unseres Lebens. Wir reagieren wütend, traurig, enttäuscht. Die Herausforderung liegt darin, zu akzeptieren, dass eben nicht alles perfekt  läuft, und diese Lernerfahrungen für uns zu nutzen.

Schönheit im Unvollkommenen finden, Akzeptanz und (Selbst-)Wertschätzung trotz aller Makel, das sind alles Dinge, die uns gut durchs Leben bringen.

Herrlich unperfekt ist auch die Entstehung dieser Fotos. 

Ich wollte dir gerne ein Beispiel zeigen, wie ich eine ungeliebte Stelle im Bild durch Überkleben, Ausschneiden und mit einem anderen Bildflicken unterlegen, verändern kann, habe aber derzeit kein geeignetes Bild parat. Deshalb habe ich einfach mein Emubild von heute Morgen genommen.

Statt mit Schere oder Papiermesser die Stelle mit dem Ei einfach auszuschneiden, kam ich auf die Idee, ein Loch einzubrennen, weil die verkohlten Lochränder spannender aussehen. Dabei habe ich etwas zu viel mit dem Feuer gespielt bzw. hat es nicht funktioniert, während des kontrollierten Abbrennens schnell ein Foto davon zu machen. So kam dann mein Pinselwasser als Löschwasser zum Einsatz. Auch wenn dabei nichts Besonderes entstanden ist, zeige ich es dir trotzdem, denn es geht ja vor allem um die grundsätzliche Idee hinter dem Ganzen.

Da ist ein Riss in allem. So fällt das Licht herein. Das singt Leonard Cohen in Anthem. Ein tröstlicher Gedanke.

Was hältst du von der Lebensanschauung hinter Kintsugi?

Ich hoffe, du konntest dir aus diesem nicht perfekten Blogartikel etwas Nützliches für dich mitnehmen.

Viele Grüße aus der Mutmalerei!

Katrin

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